Postfossile Architektur
Eine bautechnische Realfiktion
Masterarbeit SoSe 2023 | Lucas Oettinger
Fugen und Nischen an Gebäuden finden häufig als Lebensraum von Pflanzen, Insekten, Vögeln oder kleinen Säugetieren eine ungeplante Verwendung. Der hier vorgestellte Entwurf legt den Fokus auf die mögliche Behausung von Tieren und Pflanzen, und betrachtet die angestrebte Kohabitation hinsichtlich ihres gestaltgebenden Potentials. Ausgangspunkt bildet eine künstliche Nachbildung des Ökosystems Tuffsteinquelle, das sich durch die fortdauernde Ablagerung eines porösen, aber sehr druckfesten Sedimentgesteins auszeichnet. Kalkreiches Wasser und Moose, die am Quellaustritt wachsen, verursachen eine jährliche Gesteinsbildung von bis zu zwei Zentimeter Schichtdicke.
Durch einen spekulativen Prototyp sollte die künstliche Sedimentierung praktisch erprobt werden. Zu diesem Zweck wurde ein Raumfachwerk mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter gebaut. Darauf ist ein Dach befestigt, das Niederschlagswasser sammelt. Das durchs Abregnen CO2-haltige Wasser wird in einen ins Erdreich abgesenkten Tank eingeleitet. Dort sickert es zunächst durch eine Schicht Humus, was den Kohlendioxidgehalt erhöht und dann durch eine Schicht Kalksplitt, der vom angesäuerten Wasser ebenfalls aufgelöst werden soll. Um diesen Prozess zu beschleunigen, wurde CO2 außerdem aus einer Flasche direkt in den Tank eingeleitet. Vom dort wird das Wasser wieder nach oben gepumpt. Mit von Moos bewachsenem Textil bespannte Rahmen sind in nördlicher und westlicher Richtung an der Grundstruktur angebracht. Das mit Kalk angereicherte Wasser überströmt das Moos großflächig. Der Bewuchs nimmt das gelöste CO2 auf, der Kalk ist infolgedessen nichtmehr löslich und legt sich als poröser Tuffsteins um das Moos.
Überflüssiges Wasser floss nach unten ab und wurde erneut in den Kreislauf eingeleitet. Der Prototyp stand im Freien, im Bereich des Campus’ Stadtmitte der Universität Stuttgart und war für den Zeitraum der Masterarbeit im Betrieb. Auch wenn die Ablagerung von Gestein wegen verhältnismäßig kurzer Standdauer nur bedingt erfolgte, konnte erfolgreich beobachtet werden, wie sich viele Vögel, Insekten und Eichhörnchen die Struktur als Lebensraum erschlossen.
Um die potenzielle Gestalt der Ablagerungen zu erahnen, erstellte ich mithilfe der graphischen Programmieroberfläche des Animationsprogramms Blender eine Simulation des Wachstums, die Grundlage der weiteren Planung. Zusätzlich wurden zum Zweck der Formfindung Handzeichnungen und Güsse erstellt. Anhaltspunkt war eine Gesteinsprobe aus dem Bereich einer natürlichen Tuffsteinquelle, nahe meines Heimatortes, Bad Urach.
Auf Basis von Simulation und künstlerischer Auseinandersetzung plante ich eine Skalierung des Prototyps auf den personenbezogenen Maßstab. Die entwickelte Form wurde wiederum mithilfe eines parametrischer Entwurfsprogramm nach dem Prinzip des Prototyps in eine technische Struktur übersetzt, die die Grundlage für das Gesteinswachstum bilden soll. Die Form beherbergt ein Atrium, die Gegenform zur bereits erwähnten Gesteinsprobe, von einer Hülle einzelner Kammern umformt und gestützt. Das Atrium selbst ist so gestaltet, dass es von Menschen nicht betreten werden kann und der Aneignung durch nichtmenschliche Lebewesen vorbehalten ist. Als Standort wurde die Abfahrt gewählt, die von Süden kommend die Bundesstraße 14 unter dem Charlottenplatz hindurchführt. In Absehbarer Zukunft soll diese Untertunnelung aufgrund einer veränderten Verkehrsführung obsolet werden und bietet so Raum für neue Nutzungen. Dieser von Geschwindigkeit geprägte Ort soll dann durch die monumental anmutende, über ein halbes Jahrhundert wachsende Struktur verstellt werden, welche die dort gänzlich versiegelte Stuttgarter Kulturmeile wieder nichtmenschlichen Lebewesen zugänglich macht.