Part of the Problem
freier Entwurf | Vera Krimmer, David Ames | WS 2022
Architektur im Kapitalismus ist programmatisch klar bestimmt und dadurch nicht offen für Nutzungsänderungen oder Aneignung. Die Forderung nach Zwischenräumen, die vielfältiger programmierbar sind, und wo menschliche Begegnungen im Vordergrund stehen, taucht zunehmend im Architekturdiskurs auf. Sie könnten eine Antwort auf den zunehmenden Leerstand in Innenstädten sein, indem dort stattdessen kommerzfreie Orte des Miteinanders geschaffen werden. Trotzdem befürchten wir die Exklusivität solcher aneignungsoffener Gebäude analog zum nur vermeintlich egalitären öffentlichen Raum.
Dies ist der Versuch, die gewünschten Zwischenräume und Begegnungsorte so auszugestalten, dass ihre Offenheit für Aneignung nicht diejenigen ausschließt, die in der Gesellschaft strukturell benachteiligt werden. Die Frage, wie konsumfreie Räume in Innenstädten gestaltet werden, können damit sie nicht wieder nur von denen genutzt werden, die sonst hier konsumieren würden, sollte mit dem Entwurf erforscht werden.
Bauliches Konzept
Standort des Entwurfs ist die ehemalige Kaufhalle aus den 60er-Jahren auf der Stuttgarter Königstraße, deren ins Stocken geratener geplanter Abriss den Angriffspunkt für die Intervention darstellt. Unser Ziel ist es also flexibel auf mögliche Aufschübe reagieren zu können, und volle Rückbaubarkeit aber auch Verstetigbarkeit anzubieten. Herausforderungen waren dabei die energetisch überholte Fassade und die Entfluchtung des ehemaligen Kaufhauses. Diese werden durch die Verdopplung der Fassade nach Innen gelöst, die über eine Laubengangerschließung des Innenraums Zwischenräume schafft und dank durch alle Stockwerke „gestanzter“ Lufträume außerdem für eine natürliche Belüftung und Belichtung des Gebäudeinneren sorgt. Alle additiven Interventionen sind als industrielle Systemteile geplant. Die bestehende Zweiteilung des Gebäudes, in sichtbare ehemalige Verkaufsflächen und verborgene Servicefunktionen als „Täuschungsarchitektur“, bietet die Möglichkeit, versteckte Schutzräume und trotzdem ein Maximum an Begegnungsfläche zu schaffen. Die Täuschungsarchitektur wird verstärkt durch eine aufgedickte schräge Wand, die auch die Nebenfunktionen beinhaltet.
Durch das doppelte Erdgeschoss ist das Gebäude an drei Seiten im Straßenraum präsent und generiert eine Niederschwelligkeit für verschiedene Nutzer*innengruppen.
Soziales Konzept
In einem vorausgehenden Analyse-Teil wurden marginalisierte Gruppen in Stuttgart und ihre Bedürfnisse betrachtet. Dabei wurde ermittelt, dass aufseiten der Institutionen, die deren Bedürfnisse adressieren, Synergien genutzt und Begegnungsräume geschaffen werden könnten, wenn Überschneidungen zwischen Angeboten mehreren Gruppen zugute kämen. Gleichzeitig sollten die marginalisierten Gruppen untereinander und im Austausch mit der Privilegiengesellschaft darin unterstützt werden, sich gegenseitig kennenzulernen.
Jedes Stockwerk des Gebäudes besteht aus der PARASITE genannten Täuschungsarchitektur, in der die versteckten Schutzräume angesiedelt sind, und der ehemaligen Verkaufsfläche im Innern der Innenfassade, die jeweils in drei Teile gegliedert wird, welche unterschiedliche Bedarfe adressieren. Die dringlichen Bedürfnisse marginalisierter Gruppen sollen im URGE bedient werden. Die Privilegiengesellschaft gilt es mit Unverhofftem, nicht Notwendigem aber Wünschenswertem abzuholen. Ihre Träume sollen im DESIRE erfüllt werden. Dazwischen liegt die INTERSECTION, der Ort wo die Begegnung unterschiedlicher Gruppen im Mittelpunkt steht.
Das Haus soll nicht als fertig geplantes Gebäude entworfen werden, sondern soziales und politisches Testfeld sein. Wir Entwerfer*innen betreuen den ersten Schritt des Ausbaus und reihen uns dann zwischen den späteren Benutzer*innen des Hauses ein, denen der Entwurf ein Handbuch mitgibt, wie der Weiterbau und Gebäudebetrieb über Aushandlungsprozesse gestaltet werden sollen. (Eine mögliche Belegung wurde exemplarisch in den Grundrissen durchgespielt.)
Die aktivistische Ebene des Entwurfs wurde mit Beginn des Abrisses schließlich auf die Straße gebracht und die Potenziale, die im Gebäude möglich gewesen wären, wurden in einem „offenen Wohnzimmer“ als Sitzstreik auf der Königstraße erprobt und abgebildet.